Masern, Polio und die Bedeutung der Impfungen: Interview mit Dr. Anne Kühn Masern galten lange als Kinderkrankheit, die durch Impfungen ausgerottet werden könnte. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Herdenimmunität wird in Deutschland nicht erreicht, und die Fallzahlen steigen. Auch Polio-Viren tauchen wieder auf, und tragische Fälle wie der Tod eines ungeimpften Kindes an Diphterie in Brandenburg sorgen für Aufmerksamkeit. Doch wie sieht die Impfbereitschaft in der Region aus? Welche Risiken bergen Masern und Polio? Und wie können Impfungen langfristig schützen? Diese Fragen diskutierte Ralph Kühnl mit Dr. Anne Kühn, der stellvertretenden Leiterin des Gesundheitsamtes im Rhein-Neckar-Kreis. Unzureichende Impfquoten: Ein bundesweites Problem Dr. Kühn erklärt, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den Impfquoten in Deutschland, Baden-Württemberg und dem Rhein-Neckar-Kreis gibt. Während die Region besser dasteht als der Landesdurchschnitt, reicht die Impfquote nicht aus, um die Herdenimmunität zu erreichen. Besonders besorgniserregend ist der Anstieg der Masernfälle: Während es 2023 bundesweit 74 gemeldete Fälle gab, stieg die Zahl 2024 auf über 600. Als Ursachen nennt Dr. Kühn neben dem allgemeinen Impfrückstand auch die Corona-Pandemie: Maßnahmen wie Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen hatten auch die Verbreitung anderer Infektionskrankheiten reduziert. Nun breiten sich Masern wieder stärker aus. Hinzu kommt der Eintrag von Masernfällen aus Ländern mit niedrigen Impfquoten. „Wir werden nie verhindern können, dass Masern eingeschleppt werden. Entscheidend ist, dass sie sich hier nicht weiterverbreiten – dafür brauchen wir eine hohe Impfquote“, betont Dr. Kühn. Gefahren von Masern: Mehr als nur ein Hautausschlag Masern sind hoch ansteckend und können schwere Komplikationen verursachen. Besonders gefährlich ist die sogenannte Masern-Enzephalitis, eine Gehirnentzündung, die bei etwa 20 Prozent der Betroffenen tödlich verläuft oder zu bleibenden Schäden führt. Eine weitere Spätfolge ist die seltene, aber immer tödliche subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE), die erst Jahre nach der Infektion auftritt. „Die Vorstellung, dass ich sechs Jahre nach einer Masernerkrankung mein Kind beim Sterben begleiten müsste, ist schier unerträglich“, sagt Dr. Kühn eindringlich. Polio-Risiko: Ein unterschätztes Warnsignal Neben Masern sorgt auch Polio wieder für Besorgnis. In deutschen Abwässern wurden Polio-Viren nachgewiesen. Zwar handelt es sich dabei um abgeschwächte Impfviren, doch diese können mutieren und wieder gefährlich werden. „Wir haben in mehreren deutschen Städten nachweislich zirkulierende Polio-Viren. Da die Impfquote nicht hoch genug ist, besteht das reale Risiko, dass Polio-Fälle wieder auftreten“, warnt Dr. Kühn. Der letzte Fall von Wildtyp-Polio in Deutschland liegt mehr als 30 Jahre zurück – doch das könnte sich ändern, wenn der Impfschutz in der Bevölkerung weiter sinkt. Impfpass verloren? Keine Ausrede! Viele Erwachsene sind unsicher, ob sie noch ausreichend gegen Masern oder Polio geimpft sind. Dr. Kühn rät: „Am besten einfach den Impfpass mit zum Hausarzt nehmen und prüfen lassen. Falls der Impfpass verloren gegangen ist, kann der Arzt oft Impfungen aus der Krankenakte nachvollziehen. Und falls Unsicherheiten bestehen: Eine Auffrischimpfung ist im Zweifel harmloser als das Risiko einer Erkrankung.“ Impf-Skepsis: Das Paradox des Erfolges Ein weiteres Problem ist die wachsende Zurückhaltung gegenüber Impfungen. Dr. Kühn sieht hier einen paradoxen Effekt: Je erfolgreicher Impfungen sind, desto weniger sichtbar sind die Krankheiten – und umso weniger Bedrohung empfinden Menschen. „Ich hatte in meiner Kindheit noch einen Lehrer mit Polio-Spätschäden. Wer solche Bilder nicht kennt, unterschätzt leicht die Gefahr.“ Umso wichtiger sei Aufklärung, um die Bedeutung von Impfungen zu verdeutlichen. Das komplette Interview mit Dr. Anne Kühn bietet eine detaillierte Analyse der aktuellen Impfproblematik und gibt wertvolle Einblicke in den Stand der Impfungen in der Region.
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